GEWACHSEN

Sehr geehrte Damen und Herren,

in diesem majestätischen Raum begrüße ich Sie, um Sie in die Ausstellung von Sabine Neuhaus einzuladen.
Sabine Neuhaus ist eine Bildende Künstlerin, die in einer ungewöhnlichen Synthese von Elementen ihren künstlerischen Ort gefunden hat:
Fundstücke aus der Natur erfahren durch ihr künstlerisches ‚Gesehenwerden‘ Eingang in den Raum der Kunst. Sie erleben ihre Präsentation - auf einem Sockel positioniert zu werden, in Bronze abgegossen ? und darüberhinaus erfahren sie häufig eine Gestaltung, die vorhandene Strukturen verstärken oder uns Betrachter auf ein besonderes Phänomen aufmerksam machen.

In einer erstaunlichen Fülle begegne ich Sabine Neuhaus als einer Erzählerin, einer Deuterin von Schöpfung, von Existenz, Menschsein in unserem Universum. Die Welt, wie sie sie vorfindet, scheint sie oft - in Demut - staunen zu lassen. Sie nimmt gern den Faden ihres Dialogs mit der Naturwelt auf, bringt Zeugnisse der Umwelt nach Hause, spinnt den Faden künstlerisch weiter und läßt uns schließlich teilhaben an dieser so besonderen Art von Begegnung.

Dinge, an denen die meisten von uns achtlos vorbeigehen, vermag sie wie einen Schatz zu sehen und uns dann daran teilhaben zu lassen.
Sie sagt: das Mitgebrachte habe sie „angesprungen“, sie sieht darin mühelos ein Antlitz, eine Gestalt … Das Wahrnehmen und Erkennen, was mit gestalterischen Eingriffen darin verborgen liegt, ist also der 1. Schritt.

Zwischen dem Finden und der heutigen Präsentation liegt dann allerdings meist eine lange Strecke der Auseinandersetzung: Abwarten und immer wieder schauen, erste Versuche einer ‚Bearbeitung‘, liegenlassen und später erneut aufnehmen, verwerfen ? nicht zu vergessen: Künstler sind erfahren in Prozessen des Scheiterns: „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better“ - so brachte Samuel Beckett dieses Phänomen höchst präzise auf den Punkt!

Der geduldige Weg des Abwarten-Könnens, des ‚Bebrütens‘ und allmählichen Reifenlassens einer Formvorstellung mündet dann in Aktionen:
Eindrücke, die sich aus den Naturbegegnungen speisen, entladen sich in großformatigen Holzschnitten, im Drucken von überdimensionalen Platten.
Das ist umfangreiche und sichere handwerkliche Arbeit, die Sabine Neuhaus zum einen in ihrem Kunststudium gelernt hat ? die aber auch Künstler generell experimentell weitertreiben und immer wieder neu ausloten. Sich auf einen unbekannten Zugang ? zu einem Material, zu Farben z.B. - einzulassen, das macht die Basis des künstlerischen Wesens aus. Künstler sind in einem dauernden Experimentierfeld, sie stellen ihre Methoden immer wieder in Frage, verändern, verwerfen, verbessern.

Auch räumliche Veränderungen lassen Arbeiten in neuem Licht erscheinen. Das heißt also: Veränderung, Variation, Dynamik, der Prozeß, das sind wesentliche Begriffe ? und das in einem Gerichtsgebäude zu formulieren besitzt schon eine besondere Klangfarbe…

Neben dem offenen Blick, dem experimentellen Furor, der Kraft und dem Mut zu Eingriffen und Umsetzungen geht die Künstlerin ebenso in kritische Distanz, reflektiert ihre Konzepte für Reihen von Arbeiten, macht sich Gedanken, welchen Platz ihre unterschiedlichen Arbeiten miteinander einnehmen.

Der Blick ins kollegiale Lager ist ebenso wichtig.
Im Fall von Sabine Neuhaus, deren Arbeiten sich z.T. dem Gattungsbegriff der LandArt einfügen, kann ich Künstler in einen Dialog rücken wie:
Herman de Vries (*1931), Nils-Udo (*1937) oder Andy Goldsworthy, (*1956). Diese Künstler arbeiten ausschließlich in und mit der Natur. Sie entwickeln mit vorgefundenem Material künstlerische Eingriffe in den Naturkosmos, die dann nur für eine geringe Zeitspanne existieren. Hermann de Vries arbeitet Collagen und Installationen, in denen er sein Material erforscht ? in Hinsicht auf Heilkunde oder auch mythologische Hintergründe. Künstler sind fast immer auch Forscher.

Das in der Haltung des Zufalls Entdeckte ? das ‚objet trouvé‘, wie es die Kunstgeschichte seit Duchamp zu Beginn des 20. Jhs nennt, wird zum Forschungsgegenstand. Die Kategorie des Zufalls gehört ebenfalls zu diesem Künstler Duchamp, wie auch zu Max Ernst - mit denen wir die Stilphase des Surrealismus verbinden.

Seither hat es viele Entwicklungen in der Kunst gegeben und ein Kennzeichen aktueller Kunst ist das Bewußtsein des Verlusts von ursprünglichen Räumen. Sich mit Gefundenem, mit Fragmenten, verletzten und ausgesonderten Zeugnissen der uns umgebenden Natur zu beschäftigen, kommt neben dem neugierig-analytischen Aspekt auch einem heilenden gleich. Künstler wie Sabine Neuhaus holen uns heraus aus dem Wahn der formalen Perfektion, des Standards, der glatten Oberfläche, des seriell-Produzierten. Wir dürfen uns dem Einzelnen widmen. Ihre Arbeiten sind bis auf wenige sehr kleine Auflagen ? die Arbeiten überwiegend Unikate. Ihr Blick vermag es, der Grundform, dem Elementaren Raum und Gestalt zu geben: Leben und Tod, Mutter und Kind, der Schmerzensmann ? so betitelt sie einzelne Arbeiten.

Die Liebe und Achtung, die dem Verworfenen hier zuteil wird, mag uns Betrachter berühren und uns Kraft geben, für unseren häufig aufreibenden und kraftzehrenden Alltag.

Prof. Dr. Gabriele Oberreuter